40. Vergangenheitsbewältigung und ihre sprachlichen Aspekte
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Georg Kremnitz
Universität Wien
Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden
Rosa Luxemburg, 1919
Zur Verständigung: jede politische Herrschaft hat ein gewisses Gewaltpotential; das staatliche Gewaltmonopol ist bis zu einem gewissen Grade für die Funktionsfähigkeit einer modernen Gesellschaft unerlässlich. Wo es versagt, sprechen wir von gescheiterten Staaten (failed states). Gewöhnlich genügt das Prinzip, nur in besonderen Fällen wird die Gewalt sichtbar. Nicht von diesen Staaten möchte ich im Folgenden sprechen, sondern von denen, in denen die Gewalt zur Unterdrückung der Bürger oder gewisser Gruppen unter ihnen systematisch eingesetzt wird, das was wir Gewaltherrschaften nennen.
Meine These ist folgende: Gewaltherrschaften hinterlassen immer ihre Spuren in Gesellschaften; selbst nachdem sie abgelöst werden, bleibt ein hohes Gewaltpotential in einer Gesellschaft erhalten, die Unduldsamkeit gegenüber allem, was „anders“ ist. Diese Gewaltsamkeit kann sich über lange Zeiten erhalten, wenn sie nicht bewusst bekämpft wird. In manchen Gesellschaften ist es zu einer solchen Aufarbeitung gekommen, es sei nur als Beispiel an die Wahrheits- und Versöhnungskommission unter Leitung von Desmond Tutu in Südafrika erinnert, an die Bemühungen um die Bewältigung der (letzten) Diktatur in Argentinien unter der Präsidentschaft von Nestor Kirchner, oder auch an die (späte) Aufarbeitung der Verbrechen der Hitler-Diktatur in Deutschland. Sicher ist durch diese Maßnahmen das Gewaltpotential in den jeweiligen Gesellschaften nicht völlig verschwunden, sie haben immerhin zu einer Abnahme der Gewalt in der Gesellschaft geführt und zum Aufbau eines höheren Toleranzniveaus. Dagegen ist etwa der Genozid an der autochthonen Bevölkerung in den USA – auch das eine Form von Gewaltherrschaft – nie ernsthaft problematisiert worden, darin könnte ein Grund für die vielfach vorkommende Gewalt in diesem Staat sein, wohl auch für seine oft aggressive Politik nach außen. Auch im heutigen Russland ist die Aufarbeitung der Folgen der Diktatur, vor allem unter Stalin, nach kurzer Zeit wieder eingeschlafen, auch hier fällt das hohe Niveau der Gewalt in der Gesellschaft auf. Die Zahl der Beispiele ließe sich vervielfachen. Wo eine Gewaltherrschaft nicht gesellschaftlich aufgearbeitet wird, bleibt das innewohnende Gewaltpotential für lange Zeit höher als dort, wo es zu einer solchen Aufarbeitung kommt.
In ähnlicher Weise ist es in Spanien bisher nicht zu einer Aufarbeitung des Unrechts und der Gewaltexzesse der franquistischen Diktatur gekommen. Nur in einigen peripheren Regionen ist das ansatzweise gelungen. Dabei hing die Intensität der Bemühungen gewöhnlich von der politischen Couleur der jeweils herrschenden Gruppen ab. Die Frage muss sich stellen, ob es nicht mittlerweile schon sehr spät ist für eine solche Aufarbeitung, da nur noch wenige der damals Verantwortlichen am Leben sind. Andererseits dürfte es für solche Versuche nie zu spät sein, wie die fortdauernde Beschäftigung mit der Shoah in Deutschland zeigt; sie schafft noch immer eine gewisse Sensibilisierung für die Menschenrecte. Leider zeigt die Erfahrung, dass neue Rückfälle in Gewalt nie auszuschlieβen sind. Ein Konsens über das Verwerfliche einer Diktatur erschwert immerhin neuerliche Bestrebungen in diese Richtung.
Worin zeigt sich, dass eine diktatorische Vergangenheit in einer Gesellschaft nicht oder unzureichend bewältigt ist? Dafür gibt es Indizien aus vielen Bereichen; am deutlichsten (und am verräterischsten) ist oft die Sprachverwendung. Das Gefährliche liegt darin, dass der Sprachgebrauch nach einiger Zeit nicht mehr bewusst ist. So wird im Deutschen für die Hitler-Diktatur noch vielfach der Begriff „Drittes Reich“ (ohne Anführungszeichen) verwendet, obwohl darin eine – gewöhnlich unbewusste – Übernahme der Vorstellungen der damaligen Machthaber suggeriert wird. Vielfach wird Vokabular verwendet, das Gewalt evoziert oder zu ihr aufruft – gerade bei den Staaten oder Gruppen, welche heutzutage keine Flüchtigen aus anderen Ländern aufnehmen wollen, wird ein solcher Wortschatz oftmals verwendet. Der Diskurs mehrerer Regierungen und vor allem regierungsnaher Organisationen in Staaten wie Ungarn oder Polen, in den letzten Jahren auch Italien, gibt genügend Beispiele dafür. Jede Gewaltherrschaft hat ihre eigenen Kennwörter geschaffen, die dann wieder aufgenommen werden – in Spanien galt das lange Zeit alle Verbindungen mit rojo – das ist nicht der Sinn dieser Zeilen. Wichtig ist, dass ein solches Vokabular Tür und Tor öffnet für eine Verrohung des Diskurses, wie wir sie derzeit in vielen europäischen Gesellschaften erleben – und diese dann für den Ausbruch von (nicht nur) physischer Gewalt; in Großbritannien lebende Ausländer können derzeit ebenso ein Lied davon singen wie Studenten oder Flüchtlinge aus Lateinamerika in den USA in den letzten Jahren.
Diktaturen hinterlassen nach ihrem Verschwinden ein geringes Bewusstsein für die Rechte von Minoritäten, wenn ihr Erbe nicht aufgearbeitet wird: die Mehrheit hat Recht, die Mehrheit bestimmt. Die Toleranzschwelle gegenüber Differenz ist gering. Das betrifft nur politische Fragen im engeren Sinne, die Unduldsamkeit erstreckt sich besonders auf kulturelle Themen, dazu gehören an vorderer Stelle auch sprachliche. Das zeigt sich angesichts des in Frankreich auf die Revolution und das zweite französische Kolonialreich zurückzuführenden geringen sprachlichen Toleranzpegels, wo noch immer den Sprachen der Peripherien (die Existenz von Minderheiten wird nach französischem Recht nicht anerkannt) nur ein minimaler Entfaltungsraum zugestanden wird, der dazu fühtr, dass die meisten dieser Sprachen heute nur noch eine Randeexistenz als Kommunikationsmittel führen können. Dass das nicht der Fall sein muss, zeigt die unterschiedliche sprachliche Entwicklung Großbritanniens.
Die neueren gesellschaftlichen Entwicklungen in Spanien lassen sich teilweise mit meiner eingangs erwähnten These erklären: die Vernachlässigung der Folgen der Diktatur hat dazu geführt, dass auf der einen Seite das Gewaltpotential in der Gesellschaft insgesamt hoch bleibt und auf der anderen die Achtung vor Differenz bei der Mehrheit der Bevölkerung (zu) wenig entwickelt ist. Nach durchaus vielversprechenden Anfängen, die der Erleichterung über das Ende der Diktatur und den friedlichen Übergang geschuldet waren, kommt es seit mehr als zwei Jahrzehnten wieder zur zunehmenden Rückkehr zu einer assimilationistischen Politik. Bereits gewährte sprachliche Rechte der Peripherien, vor allem des Baskenlandes und Kataloniens, werden in Frage gestellt, eine überfällige Reform der spanischen Verfassung, die 1977/78 noch unter der genauen Überwachung durch das franquistische Militär verabschiedet wurde, bleibt aus (wir, die wir die Entstehung dieser Verfassung aus relativer Nähe miterlebt haben, gingen davon aus, dass sie nach einer gewissen Zeit überarbeitet und vervollkommnet würde). Hinzu kommt das Paradox, dass die „anderen“ Spanier zwar die Katalanen oft nicht schätzen, wie viele Umfragen zeigen, sie aber auch nicht über ihre Zukunft entscheiden lassen wollen. Das geht im Falle Kataloniens bis zur Kriminalisierung politischer Positionen, die friedlich vertreten werden. In Spanien hat das eine lange Tradition: fast jede politische Forderung im Baskenland auf mehr Selbstbestimmung wurde lange Zeit als von der ETA abhängig diskriminiert und bestraft, heute spricht man von den Forderungen der Katalanen als versuchtem golpe de Estado. Der Gipfel der Intoleranz wird erreicht, wenn eine spanische Vize-Regierungschefin im Oktober 2019 öffentlich erklären kann, es gäbe kein Recht auf Selbstbestimmung – und das entgegen allen internationalen Deklarationen der Menschenrechte! Nicht anders verhalten sich Diktaturen. Dass die Europäische Union in diese Auseinandersetzung nicht eingreift, entgegen den von ihr vielfach verkündeten Prinzipien dieser Menschenrechte, ist – sagen wir es höflich – verwunderlich. In einigen anderen Fällen war sie weniger restriktiv, denken wir nur an Montenegro oder Schottland. Sollte auch in Europa das Prinzip der Staatlichkeit über das des Selbstbestimmungsrechts die Oberhand gewonnen haben? Damit wären die letzten noch verbliebenen Hoffnungen in die Europäische Union hinfällig geworden. Wollte Spanien diese konkreten Spannungen lösen, müsste es, konkret seine jeweiligen politischen Mehrheiten, auf alle seine Bürger zugehen.
Doch das Thema ist von weitaus allgemeinerer Bedeutung. Je höher das Gewaltpotential in einer Gesellschaft ist, desto höher auch das Gefühl der Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Erst wenn vergangene Gewalt aufgearbeitet und in ihren Motiven verständlich gemacht ist, kann zukünftige Gewalt besser abgewehrt werden. Erst wenn die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten für alle Bürger geschaffen sind, können diese sich einem Staat zuwenden. Dazu gehören ganz besonders auch die kulturellen Rechte, etwa der Sprachgebrauch. Erst wenn ich reden darf, wie ich will, kann ich mich wohl und akzeptiert fühlen. Andernfalls bleibt immer Frustration, bleibt immer das Gefühl der gesellschaftlichen Unterlegenheit. Erst wenn ich selbst bestimmen kann, in welchem Maße und für welche Zwecke ich meine Sprachen verwenden will, kann ich mich unabhängig fühlen. Das gilt für autochthone Gruppen ebenso wie für Zuwanderer. Sicher ist es sinnvoll, dass diese die Sprachen der sie aufnehmenden Länder lernen, daneben sollten sie auch ihre Herkunftssprachen pflegen und bewahren können, denn in deren Beherrschung liegt ihre Besonderheit. So können sie Brücken zwischen den Völkern und Kulturen bauen – eine Möglichkeit, welche Einwanderungsländer auszeichnet, nur haben die meisten sie im Zuge des sich entwickelnden Nationalismus nicht genutzt und damit großen potentiellen Mehrwert in der Kultur achtlos verkommen lassen. Erst allmählich – sehr spät – ändert sich da und dort das kollektive Bewusstsein und – wichtiger noch – das Verhalten. Besonders dort, wo die Migration sich an einen früheren Kolonialismus anschließt, dem Gewalt inhärent ist/war, bekommt die kulturelle Freiheit eine zusätzliche Bedeutung; solche Migrationsflüsse sind ja im heutigen Europa bei den ehemaligen Kolonialmächten weit verbreitet.
Die Wahrnehmung der eigenen Rechte stößt dort auf ihre Grenzen, wo die der anderen betroffen sind. Diese Dialektik ist unauflöslich. Um sie zu verdeutlichen, sagte der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann vor ziemlich genau fünfzig Jahren sinngemäß: „Wer mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zeigt, um sie anzuklagen, sollte nicht vergessen, dass drei Finger auf ihn selbst zurückweisen”.